Sowjetische Repressionen gegen die ukrainische Intelligenz - Instytut Pileckiego
25.11.2025 () 18:00
Sowjetische Repressionen gegen die ukrainische Intelligenz
Die Geschichte des Hauses „Slowo“ und der „Erschossenen Renaissance“
Sowjetische Repressionen gegen die ukrainische Intelligenz. Die Geschichte des Hauses „Slowo“ und der „Erschossenen Renaissance“
25.11.2025, 18.00 | Pariser Platz 4A, 10117 Berlin
Anmeldung: https://forms.gle/Msv5kUCnADdyiaaw6
Co-Veranstalter: Bundesarchiv, Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften
Unsere Reihe Festung Archiv Ukraine bietet Archivarinnen und Archivaren aus der Ukraine eine Plattform, um über ihre Arbeit in Zeiten des russischen Angriffskrieges zu sprechen, aber auch, um ihre Bestände und die darin enthaltenen außergewöhnlichen Geschichten vorzustellen.
Diesmal spricht Olaf Hamann, Leiter der Osteuropa-Abteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, mit Yuliia Hrynova, Leiterin der Abteilung für Organisation, Koordination der Archivierung und digitale Transformation des Staatsarchivs der Region Charkiw, über die Geschichte des Hauses „Slowo“ – darüber, was sie über die sowjetische Politik gegenüber ukrainischen Intellektuellen verrät, und über den Begriff der „Erschossenen Renaissance“, den der polnische Denker Jerzy Giedroyc prägte.
Im Zentrum von Charkiw, in der Kulturstraße 9, steht bis heute ein markantes fünfstöckiges Gebäude, dessen Grundriss an den Buchstaben „C“ erinnert. Es bildet das ukrainische Wort слово (slowo) – „Wort“ – ab; kein Zufall, wurde das Gebäude doch eigens für Schriftsteller errichtet. Darauf weist auch eine Gedenktafel hin: Sie trägt 123 eingravierte Namen bekannter Schriftsteller und Künstler, die hier lebten und arbeiteten. Die Länge der Liste, zumal ohnehin unvollständig, ist bereits ein sprechendes Symbol für sich. Besonders zahlreiche Dokumente, die helfen, ihre Schicksale zu rekonstruieren, befinden sich gerade im Staatlichen Archiv der Region Charkiw.
Den Überlegungen Karl Schlögels zur Bedeutung des Raumes folgend, lässt sich das Haus „Slowo“ als ein historisches Artefakt lesen, in dem sich zentrale Prozesse der sowjetischen und ukrainischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verdichten: die zunächst wechselhafte sowjetische Ukraine-Politik, die zeitweilig, aus rein strategischen Motiven wohlgemerkt, mehr Raum für das Ukrainische zuließ, um diesen dann umso radikaler wieder zu unterdrücken. Die Geschichte des Hauses „Slowo“ verdeutlicht dies exemplarisch. Nachdem es der sowjetischen Führung nicht gelang, die ukrainischen Eliten politisch für sich zu gewinnen, wurden sie mit dem Hammer des russischen Ethnonationalismus im sowjetischen Gewand zerschlagen. Damit entmythologisiert die historische-gegenwärtige Botschaft des Gebäudes auch die bis heute verbreiteten Vorstellungen eines harmonischen, multikulturellen Miteinanders in der Sowjetunion und führt sie auf den Boden der Tatsachen zurück.
Das Gebäude wurde 1927 von dem Architekten Mychajlo (Mytrofan) Daschkewytsch entworfen und trägt klare konstruktivistische Züge. Es entstand in einer für die Sowjetunion der Zwischenkriegszeit außergewöhnlich komfortablen Bauweise. Jede Wohnung umfasste drei bis vier Zimmer – private, großzügige Räume, die in deutlichem, geradezu bürgerlich anmutenden Gegensatz zu den damals verbreiteten „Kommunalkas“ und der ihnen zugrunde liegenden kollektivistischen Ideologie standen. Diese Wohnbedingungen folgten der Vorstellung, dass Komfort und intellektuelle Freiheit eine wesentliche Voraussetzung für schöpferische Arbeit seien. Doch gerade dies erwies sich als Falle: Das vermeintliche Eldorado künstlerischer Wertschätzung versammelte alle ukrainischen Schriftsteller an einem Ort und machte sie so zu leichten Zielen staatlicher Überwachung, Verhöre und Verhaftungen. Aus einem Mikrokosmos des Wiener Fin de Siècle wurde ein Panoptikum wie aus den Werken Benthams und Foucaults. Für eine ganze Generation herausragender ukrainischer Schriftsteller und Künstler, die als „Erschossene Renaissance“ bekannt sind, wurde das Haus zum Symbol des stalinistischen Terrors.
Dass sich Geschichte, wie Mark Twain schrieb, zwar nicht wiederholt, aber reimt, zeigen auch aktuelle Entwicklungen. Das Haus „Slowo“ wurde 2019 in das Staatliche Register der Denkmäler der Ukraine aufgenommen – doch dieser Status schützte es nicht vor russischen Bombardierungen, sondern machte es womöglich sogar zu einem noch wichtigeren Angriffsziel der Besatzer. In die lange Tradition sowjetisch-russischer Unterdrückung ukrainischer Eigenart sowie des unabhängigen Denkens und Handelns fügen sich somit auch jene russischen Granaten ein, die am 7. März 2022 das Gebäude beschädigten.
Der Begriff „Erschossene Renaissance“ (ukr. „Розстріляне відродження“) wurde in den 1950er Jahren von dem polnischen Publizisten und Kulturpolitiker Jerzy Giedroyc, dem Herausgeber der Pariser Exilzeitschrift Kultura, geprägt. Er bezeichnet die Generation ukrainischer Schriftsteller, Künstler und Intellektueller, die in den 1930er Jahren Opfer des stalinistischen Terrors wurden: erschossen, deportiert oder zum Schweigen gebracht. Giedroycs bewusste Verwendung des Begriffs trug dazu bei, die Erinnerung an diese von der sowjetischen Geschichtsschreibung ausgelöschte Epoche intensiver kultureller Entfaltung wiederzubeleben und sie in den größeren europäischen Kontext der totalitären Gewalt des 20. Jahrhunderts einzuordnen.
Nach der Revolution von 1917 hatte Lenin, dessen Machtkonzept von Beginn an totalitären Prinzipien und Praktiken verhaftet war, zunächst versucht, durch strategisches Kalkül die lokalen Eliten der multietnischen Sowjetrepubliken einzulullen. "Die 1920er Jahre waren für die Ukraine eine Zeit erstaunlicher kultureller Blüte. Unter der Politik der Ukrainisierung entstanden neue Schulen, Theater, Verlage und literarische Kreise. Doch diese Renaissance war kurzlebig – sie wurde in den 1930er Jahren von Stalins Terror buchstäblich ausgelöscht" schrieb Serhii Plokhy in seinem Klassiker The Gates of Europe. Mit Stalins Machtübernahme wurden also auch diese strategisch eingesetzten Freiräume zerstört. Eine aggressive Russifizierung setzte ein – Lehrer, Dichter und Intellektuelle wurden massenhaft verhaftet, deportiert oder erschossen, viele von ihnen 1937–1938 in Sandarmoch in Karelien. Ihren grausamsten Ausdruck fand diese antiukrainische Politik in der gezielten Vernichtungskampagne des Holodomor.