Heute ist der polnische Unabhängigkeitstag - Instytut Pileckiego

11.11.2024 () 20:00

Heute ist der polnische Unabhängigkeitstag

Ein Artikel über die historischen Hintergründe, die damaligen Herausforderungen, Dilemmata, Erfolge, aber auch Enttäuschungen und vor allem - Lehren für die Gegenwart

Heute ist der polnische Unabhängigkeitstag!

Nach 123 Jahren der Teilung durch Preußen, die Habsburgermonarchie und das russische Zarenreich entstand erstmals wieder eine polnische Republik.

Die osteuropäische Erfahrung und Lehre für heute lautet: Freiheit muss man sich erkämpfen und sie bedarf eines eigenen Staates.

1772, 1793 und 1795 teilten die Nachbarländer Russland, Österreich und Preußen die Erste Republik schrittweise unter sich auf. Was folgte, war nicht nur der Schmerz und die Nostalgie nach dem verloren gegangenen eigenen Staat, sondern auch von praktisch allen drei Besatzungsregimen eingeleitete brutale kulturpolitische Maßnahmen, die der polnischen Kultur und Sprache ein Ende setzen sollten. Ihnen schlugen jedoch im Untergrund organisierte Widerstandsbewegungen zur Erhaltung des Polentums entgegen. Diese entsprangen den unterschiedlichsten Denkschulen: Die "politische Romantik" von Adam Mickiewicz, der Warschauer Positivismus um Eliza Orzeszkowa oder auch die bekannten polnischen Aufstände.

Als in Folge des I. Weltkriegs ein Machtvakuum entstand, kam Polen Jozef Pilsudskis strategisches Kalkül zugute.

Zunächst mit seinen polnischen Legionen an der Seite der Mittelmächte kämpfend, erkannte er früh, dass sich das Blatt wendet, weswegen er ihnen dann befahl, der Armee des Deutschen Reichs nicht mehr den Fahneneid zu schwören. Kämpfte er noch 1915 an der Seite von Österreich-Ungarn und Deutschland, infolge dessen das vorher von Russland regierte Königsreich nun von der russischen Besatzerherrschaft befreit war, zeigte er sich dann als ein entschiedener Gegner der Einberufung polnischer Soldaten in die Armeen der Mittelmächte. Die Revolution in Russland tat ihr übriges und natürlich auch Woodrow Wilsons Engagement für das Selbstbestimmungsrecht der Völker, sein 14-Punkte Programm, mit dem 13. Punkt, welcher eben einen unabhängigen polnischen Staat vorsah.

Die Entstehung der Zweiten Republik war aber nicht nur aus militärisch-strategischer Sicht ein riesiger Kraftakt. Denn jetzt ging es darum, drei administrativ, logistisch und rechtlich voneinander völlig unabhängige Gebiete zu vereinen. Weite Teile des Landes, gerade dort, wo vorher Industrie und Handel gediehen, waren nach dem Weltkrieg zerstört. Und hinzu kam auch noch die sehr heterogene, heute würden wir sagen "multikulturelle" Struktur der Gesellschaft mit der zweitgrößten jüdischen Minderheit weltweit, vielen Ukrainern, Belarusen usw.

Die erste Regierung von Ignacy Daszyński gab schnell zu verstehen, dass die politische Unabhängigkeit und ein eigener Staat kein Selbstzweck waren. Daszyński kündigte an, das Wahlrecht für Frauen einführen zu wollen (was Józef Piłsudski dann zwei Wochen nach der Unabhängigkeitserklärung umsetzte), ländliche Großflächen zu parzellieren und dieses den Kleinbauern zugute kommen lassen und er sprach Minderheiten Autonomierechte zu. Ignacy Daszyńskis Interpretation des Polentums war somit eher republikanisch geprägt – ein Thema, was später durchaus zu einem Zankapfel der Republik wurde und die politische Szene dann in die nationalistisch orientierte "Endecja" und das republikanische Pilsudskilager aufteilte.

Die daraufhin folgenden 21 Jahre Unabhängigkeit waren geprägt von grandiosen, modernistischen Ambitionen, einem sehr unruhigen internationalen Umfeld, großen Errungenschaften, aber teils auch herben Enttäuschungen.

In seinem Buch über die Zweite Republik sieht Wolfgang Templin den Ökonom Eugeniusz Kwiatkowski und die Sozialistin Lidia Ciołkowska als symbolisch für die Zweite Republik stehend. Beide verteidigten die Zweite Republik mit Herz und Seele, was ihrer nüchternen Sicht auf die II RP allerdings keinen Abbruch tat: "Kwiatkowski sprach noch Anfang 1939 davon, dass es zwei Wahrheiten und Wirklichkeiten im Leben Polens gäbe. Das arme, zurückgebliebene und zur Rückständigkeit verurteilte Polen sowie das dynamische, moderne Polen, welches sich in einer erfolgreichen Aufholjagd zum entwickelten Westen befände. Beide Wirklichkeiten stünden miteinander im Widerspruch und beide seien real."

Und eben jene Kontraste, Widersprüche und aus heutiger Sicht weltanschaulich höchst heterogene Denkschulen machten die Zweite Republik aus und waren, zumindest wenn es um das kulturelle Leben geht, auch Ausdruck ihres kulturellen Reichtums:

Frauenbewegungen, die sowohl kirchlich-christlicher, nationalistischer, liberaler oder stark linker Couleur waren. Diskussionen in den Feuilletons über Denker wie Stanisław Brzozowski, einem blühenden Patrioten und zugleich marxistischen Intuitionen folgendem Neo-Nietzscheaner, der kurz vor Lebensende zu einem strammen Katholizismus konvertierte. Städte wie Gdynia, das einen Wettkampf mit dem benachbarten, eher dem Traditionalismus zugewandten Danzig aufnahm, um zu zeigen, dass es ein stolzes Kind der Moderne war.

All das waren die Elemente, aus denen das bunte politisch-kulturelle Mosaik der Zweiten Republik gestrickt war.

Polen war ein Land, welches bereits 1918 das Wahlrecht für Frauen einführte, aber zugleich vielen von dem damaligen Zeitgeist getragenen intellektuellen Moden wie Eugenik den Rücken zukehrte. Es war auch eines der wenigen Länder, in welchen Homosexualität nicht strafbar war. Den faszinierend paradoxiebehafteten Charakter der Zweiten Republik veranschaulicht am besten möglicherweise ein bekanntes Zitat und zwar deshalb, weil es von Prof. Wincenty Lutosławski, einem prominenten Vertreter der Endecja, Philosophen und engen Freund von Roman Dmowski, stammt:

"Zur polnischen Nation gehören sowohl polonisierte Deutsche, Tataren, Armenier, Synti-Roma und Juden, solange sie alle das Ideal des gemeinsamen Polens ausleben. Ein Schwarzer oder Indianer können echte Polen werden, wenn sie das geistige Erbe der polnischen Nation annehmen, welches in seiner Literatur, Kunst, Politik sowie Sitten und Bräuchen enthalten ist. Was zählt, ist der unabdingbare Wille, Polen als eine nationale Entität weiterzuentwickeln". Der Oberhaupt der radikalen nationalistischen Organisation ONR, die von der Regierung in den 30 Jahren verboten wurde, hatte jüdische Wurzeln und starb in Auschwitz. Sein Name war Jan Mosdorf.

Zu dieser widersprüchlichen Gestalt der Zweiten Republik gehört aber eben auch, dass man der jüdischen Minderheit in den 20er Jahren zwar weitgehende Autonomie zugesprochen hatte, dann aber vor den damals in ganz Europa an Bedeutung gewinnenden autoritären und antisemitischen Tendenzen nicht gefeilt war. Dies galt leider auch für die Politik gegenüber der anderen Minderheiten. Dass die Unabhängigkeitserklärung sehr progressive Ziele proklamierte, aber die Parzellierung der Großflächen nur in einem beschränkten Maße vollzogen werden konnte und dass man vor allem während der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahren mit teils heftiger Armut zu kämpfen hatte.

Das Ehepaar Ciołkosz, Adam und Lidia, nahm dies alles bedrückt zu Kenntnis. Als patriotische Sozialisten verteidigten sie dennoch die Zweite Republik bis zum letzten Atemzug und sie waren dann auch oppositionelle Regimegegner des nach dem Zweiten Weltkrieg Polen aufgezwungenen stalinistischen Regimes. Wie man bei Roger Moorhouse ("First to fight") nachlesen kann, nahmen alle gesellschaftlichen Klassen, quasi wie aus der Kanone geschossen, an der Verteidigung Polens 1939 teil - egal ob arm oder reich.

Die Wiedererlangung der Unabhängigkeit war ein Traum der Polen. Träume können in die Realität umgesetzt werden, per definitionem können sie mit letzterer jedoch niemals 100% übereinstimmen.

Die Zweite Republik mag deswegen nicht allen ihren Idealen gerecht geworden sein, aber offen verraten hat sie diese nicht. Und deswegen hat sie den Traum von der Unabhängigkeit erfüllt.