Kielce und Jedwabne - Instytut Pileckiego
Kielce und Jedwabne
Überlegungen zu zwei schmerzhaften Fragmenten des polnischen Erinnerungsgeflechts
Kielce und Jedwabne – über zwei schmerzhafte Fragmente des polnischen Erinnerungsgeflechts
Dieser Tage gedenken wir der Opfer eines der größten Pogrome, die von Polen, den Einwohnern von Jedwabne, an ihren jüdischen Mitbewohnern begangen wurden. Am 10. Juli 1941, weniger als drei Wochen nach der Besetzung der Stadt durch deutsche Truppen, trieben vermutlich auf Anregung und in Anwesenheit deutscher Soldaten etwa 10-15% der lokalen polnischen Männer mehrere hundert Juden in eine Scheune und verbrannten sie dort. Sowohl die Zahl der Opfer (Untersuchungen der Staatsanwaltschaft des Instituts für Nationales Gedenken IPN im Jahr 2003 ergaben die Zahl 340 - 400) als auch die der Täter (man geht schätzungsweise auf der Basis von Zeugenaussagen von 40 aus, andere Quelle nennen die Zahl 100) konnte bis heute nicht vollständig ermittelt werden. Unklar ist auch, inwieweit das zweifellos von Polen durchgeführte Pogrom von deutscher Seite inspiriert war und ob es in Anwesenheit von speziellen deutschen Einheiten oder der Gendarmerie stattfand.
Handelte es sich um ein Verbrechen, welches einem spontanen antisemitischen Hassausbruch entsprang oder folgte es dem vorgefertigten Drehbuch der lokalen Besatzungsmacht? Am 27. Juni 1941 wurden die Juden von Białystok zunächst von deutschen Einsatzgruppen dazu gezwungen, die Statuen Lenins und Stalins vor dem Hintergrund laut schallender sowjetischer Lieder zu entfernen. Danach wurden mehrere Juden erschossen, einige Jüdinnen vergewaltigt, bevor viele Juden dann in einer Synagoge verbrannt wurden. Zwei Tage später gab Heydrich seinen Einsatzgruppen den Befehl, derartige Pogrome, allerdings mit primärer Beteiligung der lokalen Bevölkerung, zu provozieren und dabei alle Spuren eines von oben verordneten Handlungsleitfadens verschwinden zu lassen. Dies ging mit dem Einmarsch der deutschen Besatzungskräfte in ehemals von der Sowjetunion okkupierte Gebiete einher und sollte die lokalen Juden wie Sündenböcke, Kollaborateure und politische Bettvorleger der Sowjets aussehen lassen.
In seinem Buch „Black Earth“ ordnet Prof. Timothy Snyder Jedwabne in den historischen Kontext ein und vergleicht es mit ähnlichen Pogromen in der Umgebung (z.B. Radziłów), kommt aber zu dem Schluss, dass sich Heydrichs Plan, derartige Pogrome massenweise anzuzetteln, letzten Endes als erfolglos erwies: „Zwischen Juni und Juli 1941 wurden in nordöstlich liegenden polnischen Gebieten auf lokaler Ebene offene Rechnungen beglichen. Der Einmarsch der deutschen Armeen, ähnlich wie 20 Monate zuvor, als die Sowjets aufgetaucht waren, sorgte für den Ausbruch lokaler Gewaltakte. Manche Pole brachten Juden um, viele Polen töteten aber auch einfach andere Polen. Es waren individuelle, spontan ausgeführte Morde, welchen keinerlei Szenografie oder Plan zugrunde lag. Die polnische Bevölkerung folgte nicht der in Białystok inszenierten Blaupause, obwohl diese suggestiv war“. Nach dem Krieg, im Jahr 1949, wurden 21 Personen für die Verbrechen angeklagt, 11 Personen erhielten eine Haftstrafe in Höhe von 8 bis 15 Jahren und eine wurde zum Tode verurteilt.
Der Kontext der Nachkriegsermittlungen und Nachkriegsjustiz ist insofern interessant, als dass er einen wichtigen Teil der internationalen Nachkriegsgeschichte darstellt und in einer der intensivsten internationalen, zuweilen hitzig geführten Debatten über die polnische Geschichte gipfelte. 2001 rief das Buch von Jan Tomasz Gross eine riesige Diskussionswelle über die Rolle der Polen und die Verantwortung für die Verbrechen an den Juden hervor, Jedwabne ist seitdem nicht mehr bloß der Name eines unbekannten kleines Dorfs, sondern ist zu einem Symbol für die Beteiligung mancher Polen an der Ermordung der Juden geworden. Die öffentliche Debatte dazu, an welcher viele prominente Historiker beteiligt waren, dauerte viele Jahre und fand unmittelbar nach der Jahrtausendwende statt – sicherlich eine in dieser Hinsicht sehr fruchtbare Periode, welche Anstoßpunkt für viele bis heute anhaltenden Kontroversen und Auseinandersetzungen rund um die polnische Haltung zum Holocaust war. Für viele Polen war die Geschichte von Jedwabne ein Schock: Auf der, um hier einen Begriff aus der Sozialpsychologie zu verwenden, kognitiven Karte der polnischen Erinnerungskultur, musste nun ein neues Kapitel Einzug erhalten.
Traditionell erinnerte man sich gerne an die Żegota, dem Rat für die Unterstützung von Juden, der einzigen staatlichen Organisation in Europa, die im Zweiten Weltkrieg Juden rettete, oder auch an die „Gerechten“, d.h. Polen, die Hilfe für verfolgte Juden leisteten, trotz einer der grausamsten Gesetzeslagen im besetzten Europa (Todesstrafe in Sippenhaft für jegliche Hilfe für Juden). Nun also auch: Die Geschichte von Jedwabne und die dunkle Seite der polnisch-jüdischen Beziehungen, für welche Jedwabne exemplarisch steht. Zusätzlich zu den zahlreichen Debatten, in welchen das Interesse an dem Thema sowie die Bedeutung von Jedwabne für das individuelle und kollektive Gedächtnis Ausdruck fand, ist sicherlich noch ein anderer, bereits vorher erwähnter Aspekt interessant, nämlich die Nachkriegsprozesse und Nachkriegsjustiz. Der Strafprozess zu Jedwabne in Polen mündete schließlich in einer Todesstrafe, langjährigen Haftstrafen, war begleitet von einer späteren breiten Debatte sowie vielen Publikationen und kontrastierte damit mit den sehr moderaten Resultaten der Strafprozesse in der BRD der Nachkriegszeit. In den Nachkriegsprozessen wurden von den vielen tausend Mitgliedern des Terrorapparates nur wenige mit mehrjährigen Haftstrafen belegt. Ein paar zig Strafprozesse, welche das hier besprochene Bezirk Białystok betrafen, in welchem etwa 270.000 Menschen dem deutschen Besatzungsregime zum Opfer fielen, endeten mit lediglich 7 Verurteilungen: Der Leiter der Einsatzgruppen 8 Dr. Otto Bradfisch erhielt 4 Jahre Haft, Buchs und Schaffrath, die Anführer des Polizeibataillons 309 wurden zu 4 Jahren Haft verurteilt, der Kommandant der SIPO Altenhoch und seine Mitarbeiter Heimbach, Didus, Errelis wurden jeweils zu 8, 9, 6 und 5 Jahren Haft verurteilt. Zugleich wurden solch prominente Funktionäre wie der Kommandant der Gendarmarie in Białystok, von Bredow, der Leiter der Schutzpolizei Franz Lampe oder der SS-Oberführer Werner Fromm freigesprochen. So lässt sich erklären, dass beispielsweise bis heute die genaue personelle Zusammensetzung der Gendarmerie in Jedwabne, die auch für spätere Verbrechen verantwortlich war, nicht bekannt ist.
Die Geschichte von Jedwabne wird häufig mit der schrecklichen Geschichte des Pogroms in Kielce in Verbindung gebracht, dessen 78. Jahrestag sich am 4. Juli jährte. Infolge eines antisemitischen Übergriffs der polnischen Einwohner von Kielce wurden mehr als dreißig Juden getötet und noch einmal so viele verwundet. Antisemitische Verschwörungstheorien griffen über und waren der Nährstoff des Gedankenguts, welches die Täter dazu verleitete, eine solche Tat zu begehen. Ganz egal, ob es sich um eine mögliche Provokation seitens des kommunistischen Regimes handelte – eine bis heute ungeklärte Hypothese – , schockierend war nicht nur die Tatsache, dass es zum Mord an Holocaust-Überlebenden nach 1945 gekommen war, sondern auch die stereotypischen antisemitischen Parolen, die das Pogrom begleiteten. Das Pogrom in Kielce versetzte die Juden in Polen in Angst und Rage, befeuerte die jüdische Auswanderungswelle aus Polen nach dem Holocaust maßgeblich. Auch Kielce bleibt ein Thema der öffentlichen Diskussion, so entstehen immer noch neue Bücher zu dem Thema und 2006 begab sich Präsident Lech Kaczyński dorthin, um den Pogrom als eine „Schande für Polen“ zu bezeichnen. Auch hier lohnt wieder ein Blick auf Kielce und den Umgang mit dem Pogrom im Rahmen der Nachkriegsermittlungen und der Nachkriegsjustiz in Polen. Als Ergebnis einer schnellen Untersuchung wurden neun Personen zum Tode verurteilt, zwanzig weitere erhielten langjährige und lebenslange Haftstrafen. Insgesamt also deutlich mehr als die rund 4 zum Tode verurteilten Mitglieder der Einsatzgruppen in der BRD, die für den Tod von Zehn- bis Hunderttausenden von Juden verantwortlich waren. Schließlich machte einer der Kommandanten der Einsatzgruppe 9, Dr. Alfred Filber, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis eine Karriere im Kino als Schauspieler – er spielte in dem Film „Wundkanal“ von Thomas Harlan.
Im Falle von Kielce hingegen sorgte die sehr schnelle Vollstreckung teils für Unmut und Proteste, da zu dem Zeitpunkt der am 9. Juli 1946 zum Tode verurteilte ehemalige Reichsstatthalter in Posen Arthur Greiser noch am Leben war. Insofern werden Jedwabne und Kielce für immer in der kollektiven Erinnerung Polens und Europas verweilen und dort auch weh tun. Sie sind aber auch ein Indiz dafür, dass die bekanntermaßen von Ralph Giordano heraufbeschworene „Zweite Schuld“ nicht unausweichlich war, sondern das bei entsprechendem Willen und Handlungsdrang definitiv die Möglichkeit bestand, nach dem Zweiten Weltkrieg NS-Verbrecher zu verurteilen.
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