Nürnberg und Tokyo für Russland? - Instytut Pileckiego
Nürnberg und Tokyo für Russland?
Einige Eindrücke aus der Konferenz "Russia's War of Aggression Against Ukraine. Challenges of Prosecuting and Documenting War Crimes"
Nürnberg und Tokyo für Russland?
Drei ebenso sachliche wie teils auch emotionale Tage voller Diskussionen, Vorträge und geballtem Expertenwissen im Stundentakt von morgens bis abends liegen hinter uns. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Frage noch nicht vollends geklärt werden konnte , aber die sehr vielen praktischen Vorschläge, wie man dies institutionell umsetzen könnte, dürften sich zukünftig als hilfreich erweisen.
Heute fanden die letzten Diskussionsrunden und Präsentationen der dieser Tage in unseren Räumlichkeiten organisierten internationalen Konferenz zum russischen Angriffskrieg statt. Sie wurde vom Pilecki-Institut in Zusammenarbeit mit dem Zentrum Liberale Moderne organisiert. Alle Panels werden in Kürze online gestellt.
Während der Konferenz wurde auch eine Multimedia-Installation gezeigt, die aus Photos und Videoaufnahmen bestand, welche das Lemkin-Dokumentationszentrum gesammelt hat.
Das sowjetische Erbe, die tiefen ideengeschichtlichen Quellen des russischen Angriffskriegs, die Herausforderungen bei der Verfolgung von russischen Kriegsverbrechen und warum „unterlassene Hilfsleistung manchmal die unethischste aller Handlungen ist“ – nur einige der Themen des ersten Tags der Konferenz, der in diesem Post kurz zusammengefasst wird.
Putins Krieg oder Russlands Krieg? Ersteres Narrativ würde sicherlich eine relativ simple Antwort nahelegen, wie zukünftig russischen Aggressionen beizukommen wären. Die zweite Antwort ist leider realistischer und zeigt tiefgehende historische Kontinuitätslinien auf: Eine lange Liste unprovozierter Angriffskriege, der Holodomor, die künstlich erzeugte Hungersnot, die bis zu 10.000.000 Ukrainern das Leben kostete, das Massaker von Katyn, als 25.000 polnische Kriegsgefangene, größtenteils Offiziere, erschossen wurden, Massendeportationen tief in die UdSSR im Zweiten Weltkrieg, danach die Razzia in Augustów, als von 7000 verschleppten und inhaftierten Polen nur etwa 600 zurückkamen. Zudem agierten nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang von der Sowjetunion gestützte und ausgebildete totalitäre Regime, die gerade in der Dritten Welt für regelmäßige Hungersnöte und Millionen von Opfern verantwortlich sind.
Könnten zukünftige Strafprozesse und die Verfolgung von russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine diese Kontinuitätslinien aufbrechen? In anderen Worten wird es möglich sein, eines der größten Versäumnisse der Geschichte nachzuholen: Nürnberg und Tokyo für Russland? Im Hintergrund der höchst detailliert ausfallenden rechtlichen Analysen der Teilnehmer der Konferenz, darunter Regierungsvertreter und Experten aus aller Welt, tauchten diese Fragen immer wieder auf.
Eröffnet wurde die Konferenz von der Direktorin des Pilecki-Instituts, Prof. Magdalena Gawin, welche betonte, dass "der russische Angriffskrieg seine eindeutigen Verbündeten habe: Heuchelei, Selbstgefälligkeit, Egoismus und Ignoranz. (…)
In den 1950er Jahren stellte Raphael Lemkin die These auf, dass der Holodomor in der Ukraine alle Merkmale eines Völkermordes aufwies. Jahrzehntelang wurde Lemkins Meinung im Westen als "zu kontrovers", als "gefährlich weil Parallelen zwischen dem sowjetischen Kommunismus und dem Nationalsozialismus andeutend" oder "revisionistisch" angegriffen. Eine solche Haltung herrschte lange Zeit auch in Deutschland, wo der Holodomor erst kürzlich als Völkermord anerkannt wurde.“
Der russische Angriffskrieg verändert nicht nur unsere Gegenwart, sondern auch unsere Sicht auf die Vergangenheit (...) Die historisch verankerte Kette russischer Kriegsverbrechen und die ewige Straflosigkeit müssen endlich gebrochen werden.“
Als nächstes ergriff der Gründer von Zentrum Liberale Moderne Ralf Fücks das Wort:
Die sich gegen die russische Aggression wehrende Ukraine müsse um jeden Preis weiterhin Unterstützung erfahren, der Krieg sei ein Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung und alle liberalen Aspirationen Ost- und Mitteleuropas. Er attestierte der deutschen Außenpolitik einen weitgehenden Wandel, die jedoch weiterhin den Ansprüchen einer wirklichen Zeitenwende nicht gerechte werde. Die besonderen Beziehungen zu Russland gehören der Vergangenheit an, Deutschland habe sich gar zu einem der größten Waffenlieferanten für die Ukraine entwickelt. Und trotzdem gilt: „Too little, too late“.
Nach der Einführung, die zum Ende hin bereits in einem randvoll mit 90-100 Personen gefüllten Saal stattfand, wandte nun Prof. Mark Kramer, der Direktor der Cold War Studies an der Harvard University, gewandt aus: Er erinnerte an die brutale Reaktion der UdSSR gegen die Aufstände in Ungarn und den Afghanistankrieg, gerade im Kontext der zivilen Opfer.
Prof. Mark Kramer betonte, dass sich Russland der Diskrepanz zwischen seinen Handlungen und den Normen des Völkerrechts voll bewusst sei. Deren Einhaltung gebieten nicht nur ethische Grundsätze, sondern auch von Russland unterzeichnete Konventionen und Verträge, rechtlich festgelegt und bestärkt durch den Artikel 15 Absatz 4 in der russischen Verfassung, welcher den Vorrang internationaler Vereinbarungen vor den Bestimmungen des staatlichen Rechts anerkennt. Russlands Vorgehen sei zum einen Ausdruck des fehlenden Willens politischer Entscheidungsträger, diese Normen als handlungsleitende Prinzipien anzuerkennen, gerade wenn es um das Militär geht, zum anderen aber auch fehlender supranationaler Instanzen.
Iryna Solonenko, die Programmdirektorin der Ukraine-Projekte beim Zentrum Liberale Moderne, stellte in einem Kommentar fest, dass sich die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Sicherheitsinfrastruktur als unzureichend herausgestellt hat. Sie war nicht in der Lage, den russischen Angriffskrieg zu verhindern oder adäquat auf ihn zu reagieren.
Die erste thematische Sitzung (nach einer Einführung von Mark Kramer und Kommentaren von Iryna Solonenko) befasste sich mit "Krieg und Gewalt im postsowjetischen Raum" und wurde von Agnieszka Bińczyk-Missala und Ian Garner gehalten.
Agnieszka Bińczyk-Missala, Professorin an der Fakultät für Politikwissenschaft und Internationale Studien der Universität Warschau, verwies auf die offiziellen UN-Statistiken über zivile Opfer. Die aktuelle Zahl 66.000 beinhaltet per definitionem weder die Toten aus den aktuell immer noch von den Russen besetzten Gebieten noch die Opfer aus bislang unentdeckten Gräbern. Prof. Bińczyk-Missala betonte, dass es sich bei den Angriffen auf die zivile Infrastruktur um gezielte Aktionen handelte: Wie die Statistiken zeigen, wurden vor allem Schulen, Krankenhäuser und Energieinfrastrukturen beschossen und bombardiert. Zum Ende hin fand auch Jan Karski in ihrem Vortrag Erwähnung. Dieser schrieb über „schwieriges Wissen“ – Wissen, dass in weiten Teilen der Welt unerwünscht sei, da es den politischen Vorstellungen und Bestrebungen vieler Akteure widerspreche.
Im nächsten Vortrag befasste sich Ian Garner, seinerseits Experte im Bereich der russischen Kriegs- und Propagandaforschung, mit dem Phänomen der „Putinjugend“. Garner zeigte, wie bewusst und leider auch effizient die junge Generation bereits in der Kindheit durch die Erziehung in der Familie und dann auch Schule indoktriniert wird. Ian Garner schätzte die Zahl der jungen Russen, die mit dem Kriegskult und der Affirmation russischer imperialistischer Bestrebungen aufgewachsen sind, auf etwa 25 % aller russischen Jugendlichen.
Nun war es an der Zeit für den Keynote-Vortrag von William Schabas. Die gut 80-90 Zuhörerinnen und Zuhörer warteten schon voller Spannung auf diesen Vortrag: Der Professor für internationales Recht an der Middlesex University in London machte zunächst auf einen zentralen Präzedenzfall aufmerksam: Der Menschenrechtsrat, eine Institution, die sich für die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten einsetzt, äußerste sich bereits Anfang März 2022 zur Lage in der Ukraine – und hat damit zum ersten Mal in seiner Geschichte überhaupt Stellung zu einem „War of Aggression“ genommen. Die Diskussion, die den Vortrag von Prof. Schabas begleitete, befasste sich mit politischen und praktischen Ansätzen zur Rechenschaftspflicht für Kriegsverbrechen. Insgesamt zeigte Prof. Schabas auf, wie spezifisch und ungewöhnlich der Krieg ist in vielerlei Hinsicht und warum dies die Verfolgung von Kriegsverbrechen deutlich erschweren dürfte.
Bei der anschließenden von Patryk Szostak moderierten Podiumsdiskussion, an der Marieluise Beck, David Schlaefer, Anton Korynevych und Jadwiga Rogoża teilnahmen, ging es um „political and practical approaches to accountability for war crimes“. Die unterschiedlichen Hintergründe der Panelisten sorgten für eine lebhafte Diskussion.
Marieluise Beck beschrieb ihre politische Evolution und akzentuierte dabei vor allem die Rolle ihrer Erfahrungen während des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien. Als sie sich in einem bosnischen Bunker vor einschlagenden Bomben schützen musste, wurde ihr klar, dass unterlassene Hilfsleistung, gerade militärischer Art, zu den unethischsten Handlungen überhaupt gehört
Dr. Anton Korynevych hingegen, der ukrainische Botschafter "at-large", wies unter anderem auf zwei Indizien hin, die die völkermörderischen Absichten der Russen gegenüber den Ukrainern bestätigen: die Aufstachelung zur Zerstörung der Ukraine als Nation und die Zwangsdeportation ukrainischer Kinder tief nach Russland. Jede dieser Handlungen entspricht der Definition des Verbrechens des Völkermordes.
David Allen Schlaefer, leitender Berater für Kriegsverbrechen und Rechenschaftspflicht in der Ukraine im Büro für globale Strafjustiz des US-Außenministeriums, sprach über etliche hypothetische Szenarien, wie ein tiefergehendes internationales Engagement zur Unterstützung der Ukraine aussehen könnte, über die russische Verantwortlichkeit und potenzielle russische Reparationszahlungen an die Ukraine.
Den ersten Tag der Konferenz rundete eine Präsentation des Lemkin-Dokumentationszentrums ab, das seit den ersten Tagen des Krieges Aussagen von Augenzeugen und Opfern der russischen Aggression sammelt.
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