586 Tage der verordneten Hoffnungslosigkeit - Instytut Pileckiego

586 Tage der verordneten Hoffnungslosigkeit

Vor 40 Jahren wurde in Polen das Kriegsrecht verhängt. 10.000 Internierte, ca. 122 Todesopfer, 1,5 Millionen Emigranten. Überall Panzer, Sicherheitskräfte, gekappte Telefonleitungen, Lebensmittelmarken wie im Krieg.

586 Tage der verordneten Hoffnungslosigkeit: Vor 40 Jahren wurde in Polen das Kriegsrecht verhängt.

“Bürgerinnen und Bürger der Polnischen Volksrepublik, ich spreche zu euch als Soldat und polnischer Ministerpräsident. Es geht um eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit: Unser Vaterland steht am Abgrund (…) Den Krawallmachern gilt es, den Garaus zu machen!” ließ Staatsoberhaupt Gen. Wojciech Jaruzelski im Fernsehen und im Radio verkünden.

Sofort wurden 70.000 Soldaten und 30.000 Polizisten mobilisiert, Panzer dominierten das ohnehin trübe staatssozialistische Straßenbild, die nicht allzu üppig vorhandenen Grundrechte wurden zusätzlich massiv eingeschränkt. In der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 wurden Lech Walesa, der damalige Vorsitzende der Gewerkschaft "Solidarnosc", sowie die Mehrheit ihrer Vorstandsmitglieder verhaftet.

Die nach der Wende berufene sogenannte Rokita-Kommission konnte die Namen und Daten von etwa 122 direkten Todesopfer des Kriegszustands ermitteln. Es dürften mehr gewesen sein, zumal die am 13. Dezember abgeschaltete Telefonleitung vielen nicht erlaubte, z.B. einen Krankenwagen zu rufen.

Etwa 10.000 Menschen wurden während des Kriegsrechts in 49 in ganz Polen aufgebauten Lagern interniert. Etwa 1,5 Millionen Menschen sahen keine Zukunft mehr in der kommunistischen Volksrepublik und verließen im Zuge des eingeführten Kriegsrechts das Land – die Machthaber bezeichneten sie als “destabilisierendes Element” und ließen diese Emigration teils zu. Für den Rest waren die Staatsgrenzen allerdings nun zu, selbst innerhalb Polens wurde die Reisefreiheit nun stark eingeschränkt und die sog. "Polizeistunde" eingeführt. Die Armee besetzte viele wichtigen Institutionen und Betriebe. Streiks, Versammlungen und Gewerkschaften wurde von vornherein keine Erlaubnis mehr erteilt, Gerichte durften im Eilverfahren urteilen, Korrespondenz und Telefongespräche unterlagen der Zensur.

Die Einführung des Kriegsrecht bewies nicht nur die Brutalität, sondern auch die Hilflosigkeit der damaligen Machthaber, die nicht in der Lage waren, mit der sich verschärfenden wirtschaftlichen Lage umzugehen und politische Reformen einzuführen, die der neuen gesellschaftlichen, der Solidarność-Bewegung entspringenden Dynamik gerecht warden würden. Dabei gab es hin und wieder solche Ideen auch innerhalb der Partei, z.B. Teile der Solidarnosc in einem Dialog miteinzubeziehen, möglicherweise gar vorsichtige Schritte hin zu einer “Finlandisierung Polens” durchzuführen (mehr Freiraum in der Innenpolitik ohne die außenpolitischen Verhältnisse in Frage zu stellen). Doch Jaruzelski zeigte sich stur, selbst nach Gorbaczows Machtübernahme. Erst eine neue Streikwelle 1988 und die Gefahr, dass diese eine neue, nicht einfangbare Eigendynamik entfesseln würden, gaben ihm zu denken. Erste Gespräche mit Lech Walesa folgten.

In der letzten Ausgabe von “Plus Minus” findet Prof. Antoni Dudek sehr direkte Worte: Die Einführung des Kriegsrechts war eine Katastrophe, die Polen ruiniert hat. Sie war auf der einen Seite eine Reaktion auf die wirtschaftliche Lage, aber zugleich wurden praktisch keinerlei Marktreformen eingeführt. Stattdessen wurde überall die autoritäre Kontrolle erhöht und die Autonomie der staatlichen Betriebe noch weiter beschnitten. Die Sanktionen der westlichen Staaten und des IMFs taten ihr übriges. Die damalige Wirtschaftsmisere wird häufig auch als Konsequenz der hochmutigen, die Verschuldung in die Höhe treibenden Investitionspolitik von Staatsoberhaupt Edward Gierek in den 70ern interpretiert.

Leere Regale in Geschäften, Lebensmittelmarken wie im Krieg, die ob der enormen Versorgungsengpässe häufig ohnehin keinen großen Unterschied machten, weil man so oder so nichts kaufen konnte. Das Ergebnis war eine weitere Verschärfung der Mangelwirtschaft, wie es der ungarische Wirtschaftswissenschaftler Janos Kornai bekannterweise bezeichnet hatte.

Noch 1984-1985 zeigten die wirtschaftlichen Daten eine leichte Erholung, was Jaruzelski dazu verleitete, innerhalb der Partei zunächst einen Mythos des “Retters des Sozialismus” aufrechtzuerhalten. Das war aber nur von kurzer Dauer.

Jerzy Osiatynski, ein Minister der ersten Regierung nach dem Runden Tisch, stellte fest, dass die polnische Wirtschaft anno 1989 einem Land glich, in welchem gerade erst Krieg herrschte. Alles schien zerstört.

In den 90er Jahren wurden die Polen immer wieder nach ihrer Meinung zu dem Kriegsrecht befragt und die Ergebnisse waren nicht selten überraschend ausgeglichen. Nicht wenige schenkten Jaruzelski Glauben: Polen soll kurz vor einer militärischen Interventioen seitens der Sowjetunion gestanden haben, ähnlich wie z.B. in der Tschechoslovakei 1968. Sie bewerteten die Einführung des Kriegsrechts nicht positiv, sondern als das möglicherweise “geringere Übel”. Andere behaupteten, dass zu der Zeit die Sowjetunion u.a. durch den Afganistankrieg bereits so geschwächt war, dass sie nicht mehr über die entsprechenden Resourcen verfügte, um tatsächlich in Polen brutal durchgreifen zu können.

Indes hatte Wladimir Bukowski in dem Buch “Der Moskauer Prozess” zum ersten Mal Dokumente gezeigt, aus denen hervorging, dass Gen. Jaruzelski zunächst selber die UDSSR um ein militärisches Eingreifen gebeten hatte. Die Sowjets offerierten politische und wirtschaftliche Hilfe, sie führten auch militärische Scheinmanöver aus, um die Solidarnosc einzuschüchtern und nahezulegen, dass ein militärischer Eingriff wahrscheinlich sei. Aber in Gesprächen mit Jaruzelski waren sie stur: Die UDSSR werde nicht militärisch eingreifen.

Durch die Dokumente aus Bukowskis Buch hatte eine neue kritische Perspektive in die öffentliche Debatte Einzug erhalten. Heute bewertet eine klare Mehrheit die Einführung des Kriegsrechts kritisch.

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