Der Anfang vom Ende - Instytut Pileckiego
Der Anfang vom Ende
Die ersten „halbwegs freien Wahlen“ hinter dem Eisernen Vorhang fanden vor 33 Jahren in Polen statt.
Die ersten „halbwegs freien Wahlen“ hinter dem Eisernen Vorhang fanden vor 33 Jahren in Polen statt. Der Sieg der Solidarność hätte deutlicher kaum ausfallen können - sie gewann alle im Sejm verfügbaren Mandate und 99 von 100 Senatsplätzen.
Die Opposition durfte maximal 35% der Sejmabgeordneten stellen (erste Parlamentskammer), im Senat hingegen 100% – was heutzutage als im besten Falle „Semidemokratie“ durchgehen würde, war 1989 eine wahre Sensation, die eine immense Strahlkraft auf den gesamten Ostblock ausübte. In Folge des sogenannten Herbsts der Völker fanden in sechs Ländern freie Wahlen statt: Polen, Tschechoslovakei, Ungarn, Bulgarien, Ex-DDR und Rumänien.
Das alles war eine direkte Folge des im Februar berufenen „Runden Tisches“, an welchem Vertreter der Opposition und der Regierung zusammenkamen, um Kompromisspotentiale und Wege aus dem im damaligen Polen vorherrschenden politischen Klinsch auszuloten. Die polnische Wirtschaft war am Ende, die Unterstützung der UDSSR für die polnischen kommunistischen Machthaber immer fraglicher, die Abhängigkeit vom Westen, u.a. durch die von General Jaruzelski 1986 beantragten finanziellen Hilfspakete seitens des IWF, immer größer. Ein „weiter-so“ war undenkbar, selbst für die Hardliner der „PZPR“ (Deutsch: PVAP, Polnische vereinigte Arbeiterpartei).
Dabei entbehrte die politische Lage nicht einer gewissen Pikanterie: Ursprünglich wollte die damalige Solidarność eine Machtübernahme eigentlich vermeiden, den Regierenden hingegen lag viel daran, die nahende wirtschaftliche Katastrophe der Opposition in die Schuhe zu schieben. Nicht nur, dass eine Delegation der Solidarnosc General Kiszczak klarzumachen versucht hatte, dass man an einer Regierungsbeteiligung nicht interessiert sei, sondern man ging gar noch weiter – nachdem die PZPR im ersten Wahlgang nicht die in der Verfassung festgelegte Mindestanzahl an Stimmen erhielt, stimmte man einer Reform des Wahlrechts und einer weiteren Wahlrunde zu.
Schließlich erschien der konsequenzenreiche Artikel „Euer Präsident, unser Premier“ von Adam Michnik, welcher postulierte, die demokratische Opposition solle eine Koalition mit dem reformatorischen Flügel der PZPR eingehen und folgenden Deal vorschlagen: Eine Kohabitation bestehend aus einem PZPR-Präsidenten und Solidarność-Regierungschef. Tatsächlich wurde daraufhin Tadeusz Mazowiecki zum ersten nichtkommunistischen Premierminister auserkoren, während General Jaruzelski nun der Präsident war.
Allerdings nicht für lange: In der Zwischenzeit hatte es der heutige Oberhaupt der regierenden PiS-Partei Jaroslaw Kaczynski verstanden, sich als Hauptstratege der ehemaligen Opposition zu positionieren. Er suchte das Gespräch mit den ehemaligen PZPR-Satellitenparteien ZSL und SD, was kurz darauf erste Früchte trug. Die Satellitenparteien wandten sich von der PZPR ab, arbeiteten nun mit der ehemaligen Opposition zusammen und die politische Gemengelage entwickelte eine solch wuchtige Eigendynamik, dass zwischenzeitlich General Jaruzelski zurücktrat, um vom in den ersten freien Präsidentschaftswahlen gewählten Lech Walesa ersetzt zu werden.
Häufig wird an dieser Stelle der Punkt gesetzt, doch verklärt dies die eigentliche Essenz der Solidarnosc-Bewegung und der späteren freien Wahlen. Jadwiga Staniszkis, eine anerkannte Soziologin, die ihre Hauptwerke zur Solidarnosc-Bewegung an Top US-Unis verfasste und Mitglied des Solidarnosc-Expertenrats war, gab später zu Protokoll, welche essenzielle Rolle die „einfachen Arbeiter“ spielten: Nicht nur, weil sie häufig Job und Existenzunterhalt riskierten, sondern auch weil sie zu Idealen und Visionen einen direkten praktischen Bezug hatten, statt diese realitätsfremd herbeitzutheoretisieren.
Laut Staniszkis waren die Intellektuellen und Experten der Solidarnosc-Bewegung teils so stark in ihren theoriegeleiteten Erklärungsmustern gefangen, dass sie dadurch zu einer Art übertriebenen Verhaltenheit neigten. So waren es die Arbeiter, die darauf pochten, um jeden Preis die Umsetzung des ersten der 21. Postulate einzufordern: Die Anerkennung der von Partei und Arbeitgebern unabhängigen Arbeitergewerkschaften.
Wie üblich bei solchen bedeutsamen politischen Ereignissen, fehlt es bis heute nicht an Kontroversen. Da wäre zum einen die Frage nach dem eigentlichen historischen Wendepunkt. Für die einen war es vor allem die Papstvisite 1979, welche Frank Bösch in seinem Buch „Zeitenwende 1979: Als die Welt von heute begann“ als maßgeblich zum politischen Umbruch im Ostblock beitragend einschätzte. Die anderen akzentuieren vor allem die Entstehung der Solidarnosc-Bewegung, außenpolitische Umstände oder die Bankrotterklärung der Planwirtschaft.
Der Vorschlag, einen „Runden Tisch“ zu organisieren, genoss großen Rückhalt sowohl innerhalb der Opposition als auch in der Gesellschaft insgesamt. Obwohl an ihm sowohl Vertreter der Opposition als auch der Regierungspartei teilnahmen, gab es marginal auch Meinungsunterschiede innerhalb der Opposition. Hier und dort wurden Vorwürfe laut, dass nicht alle Oppositionsgruppen gerecht vertreten seien. Ferner wollten die Vertreter der radikalen, politisch damals allerdings eher wenig bedeutsamen „Kämpfenden Solidarnosc“ (Solidarnosc Walcząca), zu dessen Mitgliedern sowohl der EX-Chef der Bürgerplatform Grzegorz Schetyna als auch Kornel Marowiecki, der Vater des aktuellen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki, gehörten, von einem „faulen Kompromiss“ nichts wissen.
Mit der Zeit machte sich auch bei einigen moderateren Vertretern Unmut breit, eine fortschreitende Entfremdung zwischen den Eliten und „einfachen Mitgliedern“ der Opposition wurde bemängelt. Indes sorgte Kaczyńskis Coup dafür, dass die ehemalige Opposition vor neuen Herausforderungen stand: Konnte Polen 1989 noch die Vorreiterrolle beim Sturz des Kommunismus für sich behaupten, hinkte es nun anderen Ländern, in welchen mittlerweile 100% freie Wahlen durchgeführt wurden, hinterher. Sollte man dem Prinzip „Pacta sunt servanda” in Bezug auf die Beschließungen am Runden Tisch folgen oder neue Wahlen organisieren? Es folgte der „Krieg an der Spitze“ und mit der Einheit innerhalb der ehemaligen demokratischen Opposition war es nicht mehr weit her.
Etwas überraschend mutet vielleicht die Tatsache an, dass der wirtschaftliche Kurs dabei nie ernsthaft in Frage gestellt wurde, obwohl das Land damals ein wahres wirtschaftliches Tsunami erlebte. Die Wirtschaft war am Boden, schnelle Entscheidungen waren gefragt, die am Runden Tisch nicht teilnehmenden Vertreter der Opposition wurden de facto vor vollendete Tatsachen gestellt: Als „Plan Balcerowicza“ wurde eine umfangreiche Liste wirtschaftlicher, dem liberalen Duktus folgender Reformen getauft, welche häufig in Zusammenarbeit mit internationalen Experten konzipiert wurden.
Letztere waren meistens Vertreter internationaler Organisationen wie dem IMF und wurden manchmal etwas verächtlich als „Mariott-Brigaden“ bezeichnet. Gerade in der ersten Phase waren Parteibonzen häufig die Nutznießer der Privatisierungsprozesse, viele Arbeiter hingegen wurden auf einmal arbeitslos, erfuhren die schmerzlichen Effekte der Hyperinflation an eigener Haut und mussten miterleben, wie jegliche Dekommunisierungs- und Lustrationsvorschläge im Keim erstickten. Und schließlich waren in Polen auch immer noch sowjetische Truppen stationiert.
Dennoch: wirklich offen und explizit wurde der (relativ) proliberale wirtschaftliche Kurs nur selten in Frage gestellt. Weit verbreitet war die Erkenntnis, dass die kreditgetränkten 70er Jahre und die darauffolgende marode Dekade der 80er inklusive Verhängung des Kriegsrechts Polen zugrunde gewirtschaftet hatten. Egal welche Wirtschaftspolitik, allein der Weg hin zu einer Hartwährung musste zumindest temporär hohe soziale Kosten nach sich ziehen. Man hoffte, wirtschaftlich rationale Reformen würden sich langfristig auszahlen. Und der Ökonom Marcin Piątkowski gibt ihnen Recht: In seinem Buch “Europe's Growth Champion: Insights from the Economic Rise of Poland”, erschienen bei Oxford University Press, vertritt er die These, dass Polen zu einem der großen Wirtschaftswunder des 20. Jahrhunderts im Stile Südkoreas dazugezählt werden muss.
Die Bewertung des Runden Tisches und insbesondere das politische Vermächtnis der ersten Jahre waren jahrelang der Zankapfel der III RP – diese politisch divergierenden Narrative prägten die jeweiligen politischen Subjektivitäten der 90er Jahre sehr stark. „Zu Hause umstritten, im Ausland bewundert“ würde das politische Klima der 90er Jahre gut auf den Punkt bringen. Dazu passen auch folgende Überlegungen, die Angela Merkel mal verlautbarte: „Der Weg von Solidarnosc kann in seiner Ermutigung auch für viele in der DDR gar nicht überschätzt werden. Ich weiß das aus meinem eigenen Leben“.
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