Ein Archiv wichtiger als Leben. Das Schicksal der polnischen Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg - Instytut Pileckiego
Ein Archiv wichtiger als Leben. Das Schicksal der polnischen Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg
Anfang Mai begann in Warschau der erste Teil unseres diesjährigen Weiterbildungsseminars “Ein Archiv wichtiger als Leben”.
Vom 08.05 bis zum 14.05.2023 ging es für 16 Lehrkräfte und Multiplikatoren der außerschulischen Bildung aus Deutschland in die Hauptstadt Polens.
Am ersten Tag des Programms wurden die Teilnehmenden von der Stellvertretende Direktorin für Programme des Jüdischen Historischen Instituts (JHI), Małgorzata Sołtysik, und Małgorzata Smreczak, stellv. Leiterin der Bildungsabteilung, begrüßt, die die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen deutschen Schulen und polnischen Einrichtungen im Hinblick auf die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und den Unterricht über den Holocaust hervorhob. Nach einer Kennenlernrunde ging es für die Teilnehmenden in die Räumlichkeiten des Jüdischen Historischen Instituts.
Dort bekamen sie eine Führung durch die Dauerausstellung des „Was wir nicht in die Welt hinausschreien konnten" und lernten die Arbeit des polnischen jüdischen Historikers Emanuel Ringelblum kennen. Ringelblum gründete während des Zeiten Weltkriegs im Warschauer Ghetto das geheime Untergrundarchiv “Oneg Shabbat”, welches er mit Hilfe von Freunden und Bekannten aufbaute. Sie dokumentiert das Leben und Sterben der Jüdinnen und Juden im Ghetto während des Zweiten Weltkrieges.
Anschließend stellte die Bildungsabteilung des Pilecki-Instituts den Workshop „Widerstand gegen die NS-Verbrechen. Das Geheimarchiv des Warschauer Ghettos“ vor und zeigte den Teilnehmenden, wie sie die Geschichte rund um Oneg Shabbat in ihren Geschichtsunterricht einbauen können. Der Tag wurde mit einem lehrreichen Stadtspaziergang durch die Warschauer Altstadt mit einem besonderen Blick auf die Geschichte, Entwicklung, Zerstörung und den Wiederaufbau der Stadt abgerundet.
Der nächste Tag startete mit eine Führung durch die Wechselausstellung „Denkmäler des Widerstandes. Kunst inmitten des Aufstandes im Warschauer Ghetto (1943-1956)", geführt durch Michał Krasicki, einem der Kuratoren der Ausstellung. Die Teilnehmenden bekamen einen eindrucksvollen Einblick in die größte und bisher vielfältigste Präsentation von Kunstwerken über den Aufstand im Warschauer Ghetto in der Nachkriegszeit (bis 1956). Die ausgewählten Skulpturen, Denkmäler, Plakate, Grafiken und Fotografien zeigen nicht nur die Mehrdimensionalität des Themas und seine enorme Bedeutung für ganze Generationen, sondern auch die Schwierigkeiten und Emotionen, die ihren SchöpferInnen nahestehen.
Anschließend nahmen die Teilnehmenden an einem Workshop des JHI „Sicht auf das Warschauer Ghetto in visuellen Zeugnissen 1940-1948” während dessen Agnieszka Kajczyk u.a. ihre neueste Publikation “Anthologie der Ansichten. Warschauer Ghetto - Fotos und Filme” vorstellte. Sie präsentierte den Entstehungsprozess der Anthologie und wie die von ihr ausgewählten Bildzeugnisse der Nachwelt die unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Raum, den persönlichen Entscheidungen und der verschiedenen Motivationen ihrer AutorInnen vermitteln. Am Nachmittag standen gleich zwei besondere Aktivitäten auf dem Plan.
Die Teilnehmenden bekamen die Möglichkeit hinter die Kulissen des JIH zu blicken: Zum einen ging es in die Digitalisationsabteilung wo Krzysztof Czajka-Kalinowski, Leiter der Abteilung, den Teilnehmenden den Digitalisierungsvorgang von Archivalien sprach. Nachdem die Teilnehmenden auch die Archivscanner begutachten konnten stellte Herr Czajka-Kalinowski die digitalen Projekte des JIH, die Zentrale Judaistische Bibliothek und das Delet-Portal, das eines der wichtigsten Elemente des Oneg Shabbat-Programms ist, vor. Dank ihnen hat jeder, unabhängig von seinem Standort, uneingeschränkten Zugang zu allen Ressourcen des Archivs des JIH.
Das zweite Highlight des Tages war der Besuch des Archivs selbst. Agnieszka Reszka, Leiterin der Archivabteilung, zeigte den Teilnehmenden eine Auswahl der wertvollen Archivalien der Sammlung des JIH, u.a. Sparkassenbücher, verschiedene Reisepässe, Registrierungskarten des Zentralkomitees der Juden in Polen, Pläne des Vernichtungslagers Treblinka oder einer Schulzeitung aus dem Ghetto Litzmannstadt.
Die Möglichkeit, originale Archivalien aus der Zeit des Zweiten Weltkrieg aus nächster Nähe zu sehen, hat bei den Teilnehmenden einen tiefen Eindruck hinterlassen.
Am folgenden Tag ging es in den knapp 100 km entfernten Ort Treblinka und die Gedenkstätte des gleichnamigen Arbeits- und Vernichtungslagers Treblinka I und II. Nach einer Einführung in die Entstehungsgeschichte des größten nationalsozialistischen Vernichtungslagers im Rahmen der Aktion Reinhardt im Generalgouvernement Polen machte sich die Gruppe zunächst auf den Weg zum Standort des Arbeitslagers Treblinka I. Auf dem Weg entlang der von Häftlingen gepflasterten Steinstraße ging es vorbei an der Kiesgrube, wo einst ein Arbeitskommando von Häftlingen Zwangsarbeit leistete. Am Ende des Weges öffnete sich der Wald zu einer Lichtung, wo Überbleibsel der Gebäudegrundrisse, die das Lager einst bildeten, sichtbar wurden.
Heute ist dort nichts mehr von den einst unmenschlichen Bedingungen zu sehen, doch mit Hilfe alter Aufnahmen und Lagepläne bekamen die Teilnehmenden zumindest ein Gefühl für das räumliche Ausmaß des Lagers. Anschließend ging es zum Ort des Vernichtungslagers Treblinka II, wo sich an der ungefähren Stelle der Gaskammern ein acht Meter hohes Denkmal aus Granitquadern befindet. Um das Denkmal herum sind etwa 17.000 gebrochene, unbehauene Granitsteine in unterschiedlichen Größen verteilt, die jüdische Grabsteine (Mazewa) symbolisieren. Auf 216 dieser Steine sind Herkunftsorte der Opfer von Treblinka eingraviert. Für die Teilnehmenden machte die Ruhe und Leere am Ort des einstigen Grauens die Waltlichtung mit dem monumentalen Denkmal zu einem der eindrucksvollsten Erinnerungsorte an den Holocaust.
Der nächste Tag startete mit einer Evaluationsrunde und einem Austausch über die Gefühle und Eindrücke aus Treblinka. Gemeinsam mit Monika Krawczyk, der Direktorin des Jüdischen Historischen Instituts, kamen die Teilnehmenden ins Gespräch darüber, wie an einem Gedenkort wie Treblinka an die Opfer erinnert werden kann und Schulklassen bei Projekten wie dem sog. “Korczak Wald” selbst einen Beitrag leisten können.
Als nächster Punkt an der Tagesordnung stand der Besuch der Dauerausstellung des Pilecki-Instituts in Warschaue “Bei Namen gerufen”, einer Ausstellung die Menschen polnischer Nationalität gewidmet ist, die während der deutschen Besatzung wegen ihrer Hilfe für Juden ermordet wurden gewidmet ist. Die Ausstellung zeigt die Geschichte im Rahmen des gleichnamigen Projektes geehrter Personen und präsentiert Materialien, die bei der Erforschung ihrer Schicksale gesammelt wurden.
Am Nachmittag ging es bei einem Stadtspaziergang auf die recht Weichselseite nach Praga, einem einst historischen Vorort Warschaus der heute zwei Bezirke der Stadt bildet. Der Spaziergang begann am Museum Warschau-Praga in dem sog. Rothblith-Haus, dem ältesten erhaltenen Backsteinwohnhaus in Praga. In einem Nebengebäude wurden 1996 Fragmente von Wandmalereien entdeckt, die ein jüdisches Gebetshaus aus der Vorkriegszeit schmückten. Von dort aus machten sich die Teilnehmenden auf den Weg quer durch Praga zu weiteren Orten des jüdischen Lebens. Bei einem anschließenden gemeinsamen Abendessen wurden den Teilnehmenden ihre Diplome überreicht und über die Erlebnisse und Eindrücke der Stadt Warschau mit ihrer schweren aber auch gleichzeitig eindrucksvollen Geschichte gesprochen.
Der letzte Tag des Programms des Weiterbildungsseminars begann mit einem Stadtspaziergang auf den Spuren des jüdischen Warschaus, entlang der einstigen Ghettomauer zu Erinnerungsorten die noch immer die Geschichte des Holocaust aber auch die der Vorkriegsjahre der jüdischen Bevölkerung Warschaus zeigen. Abgeschlossen wurde das Programm mit einer Evaluationsrunde im Krasiński-Garten, der während des Zweiten Weltkriegs direkt an der Ghettomauer lag. Das Feedback und die Eindrücke der Teilnehmenden waren sehr positiv und eine neu erwachte Begeisterung und Faszination für Warschau sowie die polnische und jüdische Kultur war zu spüren.
Das Seminar wird von den Bildungsabteilungen des Jüdischen Historischen Instituts und des Pilecki-Instituts in Berlin mit Unterstützung der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie im Rahmen des vom polnischen Ministerium für Kultur und Nationales Erbe finanzierten Programms "Inspiring Culture" organisiert.
Dies ist die zweite Edition des Weiterbildungsseminars "Ein Archiv wichtiger als Leben". Die Berichte zum Projekt 2022 können Sie hier und hier lesen.
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