Richard Herzinger: Ein Patriot der Freiheit - Instytut Pileckiego

Richard Herzinger: Ein Patriot der Freiheit

Gedenkrede und Fotos von Beisetzung

Gestern fand die sehr berührende Beisetzung von Richard Herzinger statt.

Es fehlte nicht an Symbolen an diesem kalten Tag: Die Kälte stand für Herzingers dunkle Vorahnungen und seine pessimistischen Einschätzungen der menschlichen wie auch der politischen Zukunft. Die Sonne dagegen für ein kulturell, intellektuell und menschlich erfülltes, einzigartig ehrenhaftes Leben im Dienst der Freiheit. Und die wunderbare musikalische Begleitung für Herzingers tiefe Liebe zu den Künsten. Die vielen perspektivreichen Reden und Gespräche – über Herzinger als Menschen, aber auch etwa über den 28-Punkte-„Friedensplan“ als leider weitere Bestätigung seiner Diagnosen – verkörperten Herzingers bleibende Wirkkraft: Gedanken und Texte, die in uns weiterleben und weiterleben müssen.

Die gestrige Gedenkrede von Patryk Szostak

“Richard Herzinger: ein Patriot der Freiheit

Liebe Frau Herzinger, liebe Frau Starford, lieber Thierry, liebe alle,

als 1956 der ungarische kommunistische Anführer Imre Nagy seine Genossen verraten und sich den ungarischen Widerständlern angeschlossen hatte, wurde er verhaftet und vom KGB aufgefordert, all seine Waffen herauszugeben. Er überreichte ihnen seinen Kugelschreiber. Sie ahnen, warum ich diese Anekdote – von der niemand weiß, ob sie wirklich stimmt – hier erzähle: Herr Herzinger war ein Freiheitskämpfer, der mit seiner scharfen, wortgewandten Feder in der Hand sein Leben lang für die Geschicke der Freiheit kämpfte.

Ich möchte zunächst einige persönliche Worte und Reflexionen loswerden, weil mir die Bekanntschaft mit Herrn Herzinger in den letzten Jahren sehr ans Herz gewachsen ist. Es hat mich immer ein wenig überrascht, noch mehr geehrt, dass Herr Herzinger mit mir, einem ziemlich ordinären, durchschnittlichen Erdling, so viele Stunden im leidenschaftlichen Austausch verbrachte. Diese Stunden waren oft erfüllt von Unmut und verstärkt dunklen Vorahnungen über langfristige politische Entwicklungen, historischen Tiefenbohrungen und fast panoramatischen kulturell-historischen Reisen in politische und geografische Fernen. Richard Herzinger war eine wandelnde Enzyklopädie, ein scharfer Analytiker des Zeitgeists, ehrlich, manchmal roh, zugleich sehr humorvoll, nie ein Blatt vor den Mund nehmend und doch von einer unvergesslichen menschlichen Wärme. Dass es diese Gespräche im Diesseits nicht mehr geben wird, kommt bei mir immer noch nicht an – und es will auch nicht so wirklich ankommen.

Zudem will ich eine dezidiert polnische, ja sogar – so riskant solche Vorhaben sein mögen – osteuropäische Perspektive einnehmen. Und zwar mit gutem Grund. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich Herrn Herzinger kennengelernt habe: 2018 in Warschau, auf der Marszałkowska vor dem Novotel – einer Straße, die wie kaum eine andere für das moderne, blühende, wie ein Phönix aus der Asche wiedergeborene Warschau steht. Für Herzinger war sie ein Sinnbild der unendlichen Triebkraft der Freiheit. „Herr Szostak, das ist deutsche Pünktlichkeit!“, begrüßte er mich um 15 Uhr. Nun, ich verbinde mit Deutschland viele positive Emotionen und Assoziationen, ich bin in Düsseldorf groß geworden, deswegen dachte ich mir zunächst nichts weiter dabei – die Ironie dieser Situation wurde mir erst später bewusst. Denn dieser erste Kontakt war eines der ganz seltenen Male, in denen Herr Herzinger so positiv über sein eigenes Land sprach.

Warum?

Herr Herzinger war gewiss ein Patriot, aber ein Patriot der Freiheit. Jeder freiheitsliebende Mensch, sei er Deutscher, Pole, Ukrainer, Belaruse, Syrer, Taiwanese, Georgier, Amerikaner oder Franzose, war ihm ein Bruder oder eine Schwester im Geist. Viel eher als ein theoretisch „eigener“, querdenkender, die Kreml-Desinformationsmaschinerie fütternder Landsmann oder eine entsprechende Landsfrau. Jetzt habe ich versucht, Herrn Herzingers unnachahmlichen Stil nachzuahmen, aber Sie merken: Das gelingt mir natürlich nicht – es gab halt nur einen Richard Herzinger.

Heimaten waren für ihn sowohl physischer als auch geistiger Natur: zum Beispiel Frankfurt und seine Skylines, für ihn die Verkörperung des mit Winkler beschriebenen langen Weges Deutschlands nach Westen – aber auch die Vereinigten Staaten, zumindest bis vor Kurzem.

Herr Herzinger war bei jeder Demonstration unserer ukrainischen Freundinnen und Freunde von Vitsche dabei. Er reiste mehrfach in die Ukraine, pflegte ein enges und sehr sympathisches Verhältnis unter anderem zum ehemaligen ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk und lieferte sich ein publizistisches Gefecht nach dem anderen gegen jede Form der Verherrlichung des russischen Fascho-Imperialismus – egal ob von rechts, links, braun, rot oder blau. Dass die politische Lage in Georgien medial kaum präsent ist, echauffierte ihn nicht nur kurz, nein, das konnte ihm die ganze Woche vermasseln. Wenig verwunderlich also, dass er bei uns im Pilecki-Institut spätestens dann Stammgast war, als wir regelmäßige Veranstaltungen zur Lage in Belarus und zur belarusischen Protestbewegung organisierten.

In unserem Institut, einem polnischen Kultur- und Forschungsinstitut gegenüber dem Brandenburger Tor, war er nicht nur ein gern gesehener Stammgast, sondern auch ein Freund; wir nannten ihn liebevoll „Rysiek“. Und er war ein Freund im wahrsten Sinne des Wortes – und gerade deswegen, wie der hier anwesende Marko Martin in seinem Nachruf schrieb, „nicht immer unanstrengend“. Ja, nicht selten haben wir unser Fett abbekommen. Herrn Herzinger nach seiner ehrlichen Meinung zu fragen, war an sich schon eine rhetorische Frage. Eine unehrliche Meinung von Richard Herzinger hat dieses Universum nie erlebt. Diese Haltung rührte nicht nur aus seinem Temperament, sondern aus einem positiven Glauben: an Menschen – und gegen Menschlichkeiten. Wofür sollte man sonst mit jemandem streiten, wenn man nicht an ihn oder an seine Sache glaubt?

Menschen können großartig sein und mit ihren Talenten in Film, Theater, Malerei und Poesie begeistern – Bereiche, in denen Richard Herzinger, dieser Renaissancemensch, überall bewandert war. Aber für Menschen einzustehen macht nur Sinn, wenn sie bereit sind, sich ihren eigenen Schwächen zu stellen – Schwächen, die sie paradoxerweise erst zu Menschen machen. Faule Kompromisse, Appeasement, prinzipienloses Statusstreben, faktenfreie Konsensstörungen nur um der Aufregung willen – all das war Herrn Herzinger zuwider. Sein Streit, sein Disput, manchmal auch seine Polemik galt immer einer Idee: der Freiheit.

Die realpolitische Heimat dafür bot die US-geführte Weltordnung. Auch sie war unvollkommen, bisweilen verlogen, weil menschlich. Und doch zugleich eine kleine, wenn auch selektive Insel des Fortschritts im Meer der historisch so allgegenwärtigen Barbarei. Weil sie so selten vorkommen, ist jede Demokratie wie ein kleiner Juwel. Jede noch so kleine Portion Freiheit gehört verteidigt, auch wenn sie in unvollkommenem Gewand daherkommt. Das gilt in Ausnahmefällen sogar für autoritäre Regime – aber nur, wenn die Alternative Totalitarismus heißt. Das war für Richard Herzinger die zentrale Lehre aus dem Vietnamkrieg.

Ich musste gestern an Rudi Dutschke und seinen Kampfspruch bei einer völlig anderen Beisetzung denken: „Holger, der Kampf geht weiter.“ Diese Worte wirken hier fehl am Platz, aus vielen Gründen. Und doch drücken sie etwas Echtes aus: Herr Herzinger, ich weiß nicht, ob Sie uns heute hören, aber bitte gehen Sie davon aus, dass wir weiterhin mit Ihnen denken, Sie lesen, mit Ihnen diskutieren – ja, wenn es sein muss, auch weiterhin mit Ihnen streiten werden. Für all die unvergesslichen Gespräche im Diesseits, für die Ansteckung mit dem Freiheitsimpuls habe ich Ihnen nie gedankt, und ich tue es jetzt, leider erst jetzt:

Niech żyje wolna Polska!

Slava Ukraini!

Sakartvelo tavisupalia!

Žyvie Biełaruś!

Man könnte es noch in vielen weiteren Sprachen sagen. Denn Ihre Sprache war nur eine: das Esperanto der Freiheit. Herr Herzinger, danke, dass Sie unsere Freiheit verteidigt haben.”

Fotos: Gerard Praschl und Jürgen Gundlach

Zobacz także

  • Bekanntgabe

    News

    Bekanntgabe

    Bekanntgabe des Ergebnisses des Auswahlverfahrens für die Leitung der Außenstelle des Pilecki-Institus

  • Zum 86. Jahrestag der "Sonderaktion Krakau"

    News

    Zum 86. Jahrestag der "Sonderaktion Krakau"

    Sie verkörpert das Wesen der deutschen Besatzung Polens: die Vernichtung der polnischen Bildungsschichten und damit der polnischen Identität. Zugleich erschließt sie universelle Lehren über die Handlungsmuster totalitärer Regime.

  • Neuer Ukraine-Podcast!

    News

    Neuer Ukraine-Podcast!

    OUT NOW! Folge 4: "Die Revolutionen von 1917-1921"

  • Wir gratulieren Karl Schlögel

    News

    Wir gratulieren Karl Schlögel

    ...zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels!

  • Nachruf für Richard Herzinger (1955–2025)

    News

    Nachruf für Richard Herzinger (1955–2025)

    Lieber Herr Herzinger, Sie werden uns sehr, sehr fehlen – mit Ihrer herzlichen, zugleich direkten Art, Ihrem unendlichen enzyklopädischen Wissen, Ihrer moralischen Klarsicht und Ihren stets bereichernden Beiträgen in so vielen Bereichen.

  • Heute geschlossen

    News

    Heute geschlossen

    Aus betrieblichen Gründen bleibt das Institut am heutigen Samstag, den 25. Oktober, geschlossen.

  • Auswahlverfahren für die Stelle des Leiters des PIlecki-Instituts in Berlin!

    News

    Auswahlverfahren für die Stelle des Leiters des PIlecki-Instituts in Berlin!

    Alle wichtigen Infos

  • Zum Tag der Deutschen Einheit

    News

    Zum Tag der Deutschen Einheit

    Liebe Freunde, alles Gute zum 35. Jahrestag der Deutschen Einheit!

  • BREAKING - OFFIZIELLE ERKLÄRUNG

    News

    BREAKING - OFFIZIELLE ERKLÄRUNG

    Das Pilecki-Institut gibt bekannt, dass Hanna Radziejowska und Mateusz Fałkowski ihre Arbeit in der Berliner Niederlassung wieder aufnehmen.

  • Karol Madaj ist neuer amtierender Direktor des Pilecki-Instituts.

    News

    Karol Madaj ist neuer amtierender Direktor des Pilecki-Instituts.

    Die Kulturministerin Marta Cienkowska berief ihn heute in diese Funktion.

  • Dr. Joanna Kiliszek leitet die Berliner Niederlassung des Pilecki-Instituts

    News

    Dr. Joanna Kiliszek leitet die Berliner Niederlassung des Pilecki-Instituts

    Das Witold-Pilecki-Institut für Solidarität und Tapferkeit gibt einen Wechsel in der Leitung seiner Berliner Niederlassung bekannt.

  • Die Augustów-Razzia

    News

    Die Augustów-Razzia

    Die erste internationale Ausstellung zum größten kommunistischen Nachkriegsverbrechen in Polen